Christian Tetzlaff gehört zu den neugierigsten und fleißigsten Interpreten der Klassikszene. Er ist 2015 ‘Artist of the Year’ der International Classical Music Awards (ICMA). Anlässlich der diesjährigen ICMA-Gala in Ankara sprach Andrea Meuli (Musik + Theater) mit dem deutschen Geiger.
Sie gehören zu den wenigen Klassik-Künstlern, die noch so regelmäßig CDs einspielen und mit einem breiten Repertoire präsent sein können.
Ja, das stimmt. Ich nehme mehr denn je auf. Das kommt für mich zu einem guten Zeitpunkt in meiner Karriere, und mit Ondine habe ich ein Label, das sich sehr um alle Belange wie Repertoire, Kollegen, auch Covers und Texte für die Booklets kümmert. Das ist eine wunderbare Zusammenarbeit.
Das klingt ja sehr zufrieden.
Ja, so lange Sie nicht erwarten damit Geld zu verdienen ist es eine wunderbare Sache CDs einzuspielen. Vielmehr ist es eine Möglichkeit, eine künstlerische Aussage zu einem bestimmten Stück zu einer bestimmten Zeit abzugeben. Es kann auch ein Bekenntnis zu einem Stück sein. Das gilt sicher nicht für das erste, aber für das zweite Konzert von Schostakowitsch. Da machte das sehr viel Sinn, denn niemand kannte damals vor drei Jahren das Stück. Mich eingeschlossen.
Haben Sie auch die Möglichkeit, Werke noch einmal aufzunehmen, die Sie in frühen Jahren bereits einmal eingespielt hatten?
Ja, die Möglichkeit habe ich. Wir starteten dieses Jahr mit dem Dvorak-Konzert, das ich vor 24 Jahren erstmals aufgenommen hatte. Da dachte ich, die Zeit sei gekommen, dieses Werk erneut zu besuchen. Und wir koppelten es mit der Fantasie von Josef Suk. Mir scheint, ich kann mit diesem Stück eine gute Aussage auch zum Dvorak-Konzert machen, das ebenfalls etwas vernachlässigt wird im Repertoire.
Warum?
Weil es schrecklich zu spielen, aber eine erfüllende Musik ist. Daher ist es total verdient, dass man sich das Stück vornimmt.
Ein Blick in Ihren Konzertkalender lässt vermuten, dass Sie resistent gegen den Jetlag sind…
Ja, das bin ich.
Sie wechseln fast jeden Monat zwischen den Erdteilen hin und her.
Ich hatte in den letzten Monaten drei Reisen nach Japan und zwei nach Australien. Australien mag ein wenig anstrengender sein, aber normalerweise vertrage ich das alles ganz gut. Ich mache das auch, weil ich nicht zu lange von zu Hause weg sein will. In meinem ganzen Leben habe ich mich dagegen gewehrt, längere Tourneen von drei bis vier Wochen anzunehmen.
Ihr Repertoire ist sehr breit und und vielseitig. Wehren Sie sich implizit dagegen, in eine Schublade gezwängt zu werden?
Ich habe das Beethoven-Konzert mehr als dreihundert Mal gespielt, Brahms erreicht bald die Marke von hundertfünfzig, und auch Mendelssohn und einige andere Repertoire-Freunde sind die ganze Zeit mit mir dabei. Das ist mein Kernrepertoire.
Dazu brauchen Sie einen Kontrast?
Eigentlich nicht. ich könnte mein Leben mit zehn Stücken füllen. Doch es gibt so viel Schönheit, es gibt so viele Emotionen und Sichtweisen zu leben. Und es macht Spaß, neue Plätze zu erkunden. Ich fühle mich wunderbar, wenn ich Stücke für mich entdecke, von denen ich denke, dass es sich lohnt, sich für sie einzusetzen. Ich hatte beispielsweise nie in meinem Leben das zweite Konzert von Schostakowitsch gehört. Als ich es vor drei Jahren vornahm und studierte, fragte ich mich, ob es einen Grund geben könnte, dass es so im Schatten des ersten Konzerts steht. Es ist simplifizierend bis zur Verrücktheit. Beinahe nichts geschieht im Grunde während des ganzen langsamen Satzes und auch über weite Strecken im ersten Satz. Aber wenn Sie dann das Stück spielen und aufführen, erkennen Sie, dass es einen Grund hinter der Verrücktheit gibt und, dass es ein wunderschönes Stück mit Tiefe ist. Deshalb funktioniert es auch mit dem Publikum. Wenn Sie ein solches Werk nie spielen, werden Sie auch nicht herausfinden, was in ihm steckt und wie es wirken kann.
Hilft es, sich die Frische für Brahms, Beethoven oder Mozart zu wahren, wenn man sich dazwischen auf einem ganz anderen Terrain bewegt?
Es ist das leichteste in der Welt, sich die Begeisterung für das Beethoven-Konzert zu bewahren, egal was man vorher oder nachher spielt. Wäre das nicht der Fall, wäre das wirklich traurig und schlimm. Ich höre das oft, auch von Kollegen, dass wir ganz andere Dinge spielen sollten, um frisch zu bleiben. Unser Job ist es jedoch, eine enge Verbindung von Beethoven zum Publikum herzustellen, die Zuhörer im langsamen Satz zum Weinen zu bringen und sie danach, im letzten Satz, die Freude des Wiedererwachens von Leben fühlen lassen. Das ist jeden Abend von neuem eine wunderbare Herausforderung. Findet das jemand langweilig, dann hat er den Beruf verfehlt und sollte etwas anderes tun. Überhaupt müsste es unsere Mission sein – egal, was auf dem Programm steht: am Abend das Publikum von der Seele des gespielten Komponisten zu überzeugen und sein Herz durch sein Werk sprechen lassen. Das ist für mich das einzige, was wirklich zählt. Und nicht irgendwelche vorgefassten Haltungen und Meinungen, die uns diesen unmittelbaren Weg verbauen. Ich habe mich deshalb als Künstler nie freier gefühlt als heute.
Routine hat sich in Ihrem Bewusstsein nie als Gefahr festgesetzt?
Nein. Zum einen ist da meine ständig neue Verbindung zum Publikum. Zum anderen sind es die Herausforderungen all dieser Stücke selber, auf so vielen Ebenen. Und schließlich meine Liebe zu den Stücken – all das kommt zusammen. Natürlich gibt es Abende, an denen man physisch besonders herausgefordert ist. Aber nie kommt so etwas wie Überdruss auf. Davor fürchte ich mich nicht.
Auch nicht, wenn Sie auf einer Tournee während drei Wochen beinahe täglich mit demselben Stück auftreten?
Genau aus diesen Gründen wehre ich mich dagegen und lasse mich nicht für so lange Tourneen engagieren. Während einer Saison spiele ich mindestens 20 verschiedene Violinkonzerte. Da bin ich sehr offen und flexibel, auch gegenüber Wünschen von Veranstaltern.
Sind Sie auf dem Feld der Kammermusik freier das zu tun, was Sie selber möchten?
Ich fühle mich mit dem Konzertrepertoire genau so frei. Es mag Sie erstaunen, wie einfach einem Orchester zum Beispiel das Widmann-Konzert zu verkaufen ist, geschrieben vor einigen Jahren. Dieses Jahr spiele ich zum ersten Mal das Violinkonzert von Magnus Lindberg. Wenn wir unser Herzblut dafür geben, verfehlt keines der von mir gespielten Stücke, sei es aus dem Barock oder zeitgenössisch, seine Wirkung auf das Publikum. Das gilt für Ligeti, für Widmann und natürlich für Schostakowitsch – viele der Konzerte aus dem 20. Jahrhundert können zu wirklichen Favoriten des Publikums werden.
Die beiden Violinkonzerte von Szymanowski haben es offensichtlich besonders schwer. Im Konzertsaal sind sie noch immer relativ unpopulär. Woran liegt das?
An den Geigern! Szymanowskis erstes Konzert ist ein Werk des Jugendstils. Es gibt kaum ein farbigeres – ich möchte fast sagen: kein schöneres –Violinkonzert als dieses. Es ist ein Juwel mit einer unglaublich gut funktionierenden Form, die Orchestration ist zum Niederknien, und der Geigenpart bleibt unvergleichbar zu irgendeinem anderen Stück, von einer solchen Süße und Kraft! Das Konzert ist ein wirklicher Traum, wenn man es liest und spielt – bis man sich einige Aufnahmen anhört und denkt: Das ist ja vollkommen unverdaulich.
Eine widersprüchliche Wahrnehmung. Wie kommt es dazu?
Das hängt ganz einfach damit zusammen, dass für den Geiger das Sich-ausbreiten sowie das Darstellen und Kommunizieren jeder einzelnen Note so wichtig zu sein scheint, dass ein Komponist noch so oft die Bezeichnung Allegretto grazioso oder Andantino verwenden kann – es hilft ihm nichts, es muss scheinbar alles als Adagio gespielt werden. Wenn wir diese Werke hören, denken wir vielleicht an Klimt; da gibt es eine riesige Farbigkeit, gleichzeitig geht es in der ganzen Linienführung jedoch auch darum, von einer aufgeblähten Größe und fettem Wohlbefinden weg zu kommen. Das Gedicht ist ein hocherotisches Gedicht, allerdings über eine flirrende Sommernacht, kleine Tiere…
Eher filigran also…
… ja, das Konzert hat wohl eine riesenhafte Orchestrierung, aber es ist tatsächlich filigran. Das gesamte zweite Thema ist mit Allegretto grazioso überschrieben! Und es gibt kein Argument und keine Entschuldigung dafür, dies wie eine falsch verstandene Bruckner-Melodie zu spielen. Daher ist es leider vollkommen unsere Interpretenschuld, dass diese beiden Konzerte noch nicht als zum Schönsten gehörend erkannt werden, was wir haben. Wohl gibt es einige Stellen, an denen Szymanowski Lento, Grave» oder Molto allargando fordert – das sind allerdings die großen Höhepunkte. Und die kommen dann tatsächlich grösser daher als in jedem andern Violinkonzert. Als ich das Konzert zum ersten Mal auf der Bühne gespielt habe, bin ich ob dieser orgasmischen Wucht derart ins Schwanken geraten – das soll dann bitteschön auch passieren und herausragen! Doch drumherum winden sich Goldgirlanden und herrliche Episoden. Alles hat seinen genauen Platz im Stück. Es ist ein Werk von einer magischen Faszination, die Teile springen hin und her, doch am Ende sagt man: Genau so muss es sein!
Ist Szymanowski ein Einzelgänger in der Musikgeschichte?
Ich denke, Janacek ist ähnlich. Auch bei ihm dauerte es lange bis man merkte: Es gibt nichts Vergleichbares zu ‘Jenufa’ oder ‘Katja Kabanova’ – und wenig in der Welt, was einen so ergreift wie diese Musik. Gegenüber Szymanowski hat Janacek den Vorteil, dass die Oper an sich und die Geschichten dieser Werke so bewegend sind, dass man der Sache näher kommt.
Sie führen die beiden Szymanowski-Konzerte regelmäßig in ihrem musikalischen Reisegepäck mit sich?
Ja, ich habe vor allem das erste Konzert in den letzten Jahren sehr oft gespielt. Auch das zweite Konzert nehme ich regelmäßig in meine Programme auf. Hin und wieder hat es sich ergeben, dass ich in einem Konzert sogar beide aufgeführt habe. Nicht zuletzt, da sie sehr kurz und sehr unterschiedlich sind.
Wenn Sie einem Konzertveranstalter Szymanowski vorschlagen, stoßen Sie da auf offene Ohren oder doch eher auf Skepsis?
Eher auf Zustimmung. Auch die Dirigenten mögen es, da es nur zwanzig Minuten dauert. (Lacht) Da können sie nachher noch ihre Mahler-Sinfonie spielen…